6 Trends der Digitalisierung in der Life Science Branche

Die Digitalisierung erneuert die Life Science Branche seit einigen Jahren. In diesem Artikel werden einige der neuen Technologien vorgestellt.

Hannes Sommer
Hannes Sommer
Founder & Managing Director Sinceritas Executive Search

Die Digitalisierung erneuert die Life Science Branche seit einigen Jahren. Bio -, Medizin - und Pharmaindustrie müssen sich mit neuen Technologien auseinandersetzen. Auf der einen Seite werden dadurch Effizienz oder die Kommunikation mit Patient:innen revolutioniert. Auf der anderen Seite heißt es, Bedenken um die Sicherheit von Daten zu regulieren. Das gilt sowohl für Unternehmen als auch Patient:innen und überdeckt die Errungenschaften bisweilen. Schließlich bedeutet es für Unternehmen, sich intensiv mit neuen Technologien und Allianzen zu befassen, um wettbewerbsfähig bleiben zu können.

Denn die Konkurrenz ist groß und die Bandbreite der Digitalisierung ebenfalls. Von der Forschung über automatisierte Verwaltung bis hin zu digitalen Lieferketten schlägt die Digitalisierung viele Wege ein, wie die folgende Grafik anschaulich zeigt. 

Wir folgen exemplarisch einigen von ihnen. 

Gleichzeitig zeigt die Menge an Wegen auch die Menge an Daten, die generiert werden und in ihrer Geschwindigkeit und Vielfalt (Big Data)  mittlerweile nur mit künstlicher Intelligenz (KI) gebündelt und koordiniert werden können. Daten zu beherrschen ist für die Visualisierung von Studien und beispielsweise für “Predictive Analytics” in Forschung und Entwicklung von großem Vorteil. 

Datenbasierte Forschung und Entwicklung 

Predictive Analytics verwendet Daten, statistische Algorithmen und maschinelle Lernverfahren, um die Wahrscheinlichkeit künftiger Ergebnisse auf der Grundlage historischer Daten zu ermitteln. Ziel ist es hierbei, nicht nur zu wissen, was geschehen ist, sondern auch eine bestmögliche Einschätzung dessen zu geben, was in Zukunft geschehen wird.

Predictive Analytics bietet der Pharmaindustrie die Möglichkeit, Outcomes, Medikamentenverträglichkeit und letztlich eine personalisierte Medikation anzubieten.

Eine klug programmierte KI kann außerdem Zusammenhänge herstellen, die ein linear denkender Mensch möglicherweise nicht erkennt. Somit kann die Diagnostik von beispielsweise Hautkrankheiten erleichtert werden. 

Ähnlich verhält es sich mit einem anderen Tool der Digitalisierung, dem digital twin (Digitaler Zwilling). Ein digitaler Zwilling (Digital Twin) ist eine virtuelle Darstellung eines physischen Produkts, Prozesses oder Systems. 

Mit einem digital twin kann in silico, also im Computer, im Gegensatz zu in vitro (im Versuch) oder in vivo (im lebenden Organismus), ein Medikament auf Verträglichkeit und Wirkung getestet werden. Damit werden zukünftig Tierversuche vermeidbar. In diesem digitalen Zwilling kann überdies eine künstliche Intelligenz eingesetzt werden, um autonome Entscheidungsprozesse zu forcieren. 

Der digitale Zwilling kann verschiedene Parameter wie chemische Struktur, pharmakologische Eigenschaften und Interaktionen mit biologischen Systemen berücksichtigen. Dies reduziert zudem die Notwendigkeit teurer und zeitaufwändiger Labortests. Es begünstigt die Entstehung des Labors 4.0. 

Labor 4.0

Die Bezeichnung Labor 4.0 bezieht sich auf die Integration von digitalen Technologien in pharmazeutischen Laboratorien. Dies umfasst den Einsatz von Automatisierung, Robotik, KI und Internet der Dinge (IoT). Durch den Einsatz dieser Technologien können Arbeitsabläufe automatisiert, die Genauigkeit erhöht und menschliche Fehler minimiert werden. Ein Labor 4.0 ermöglicht so auch die Echtzeitüberwachung von Laborprozessen, die Sammlung und Analyse großer Datenmengen (Big Data) und die Modellierung von Experimenten. 

So gelingt Unternehmen eine Effizienzsteigerung, schnellere Ergebnissen und verbesserte Qualitätssicherung.

Hier überkreuzen sich also R&D (Forschung und Entwicklung) mit Production & Quality, um wieder auf die Abbildung zurück zu kommen und es reicht bis zum Marketing, zu dem auch Compliance Regeln gehören, die vorschreiben, was und wie beworben oder kommuniziert werden darf. 

Gesetzliche Grundlagen spielen gerade in der Pharmaindustrie eine große Rolle und müssen Hand in Hand mit neuer technischer Entwicklung gehen. 

Compliance und Pharmakovigilanz 

Denn in Pharmaunternehmen sind Standardarbeitsanweisungen (Standard Operating Procedures - SOPs) elementar, weil alle Abläufe und Prozesse der Produktion von Arzneimitteln und pharmazeutischen Stoffen genau dokumentiert werden müssen.  

Auch hier bietet die Digitalisierung eine große Hilfe. Gleichzeitig müssen nicht nur die pharmazeutischen Herstellungsprozesse, sondern auch die digitalen Prozesse selbst geschützt werden. 

Das GMP (Good Manufacturing Practice; Gute Herstellungspraxis) ist ein international gebräuchliches Gütesiegel, das die Produktion von Pharma-, Lebensmittel- und Kosmetikprodukten regulieren soll. Die Einhaltung von GMP- und Compliance-Regeln erfordert die Gewährleistung der Datenintegrität und -sicherheit. Dazu gehören Maßnahmen wie Zugriffskontrollen, Verschlüsselung, Datensicherung und -wiederherstellung, Audit-Trails (computergenerierte Protokolle) und regelmäßige Überprüfung der Systeme und Prozesse. Der Schutz der Daten vor unbefugtem Zugriff oder der Verlust derselben sind von entscheidender Bedeutung, um die Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln zu gewährleisten.

Auch in der Nachsorge sind die rechtlichen Verbindlichkeiten in der Pharmaindustrie groß. Gemäß §63b des Arzneimittelgesetzes (AMG) müssen Pharmahersteller ein System zur Kontrolle von ihnen hergestellten Arzneimitteln (Pharmakovigilanz-System) einrichten. 

Hier kann beispielsweise ein digitaler Zwilling zur Überwachung von Anomalien und Abweichungen in Echtzeit beitragen. Dies ermöglicht eine frühzeitige Intervention, um mögliche Qualitätsprobleme zu verhindern und die Einhaltung der Vorschriften sicherzustellen.

All dies schafft letztlich Sicherheit für Patient:innen nach der Markteinführung und darüber hinaus die Möglichkeit einer personalisierten Patientenkommunikation, die immer mehr an Bedeutung gewinnt. 

Personalisierte Patientenkommunikation 

Aufgrund der Fülle an verfügbaren Daten können zukünftig Algorithmen Ärzten helfen,  individualisierte Risikoprofile und personalisierte Behandlungspläne zu erstellen. Dies kann die Wirksamkeit der Behandlung deutlich verbessern. 

Gleichzeitig kann auch die Kommunikation selbst auf digitalem Wege erfolgen. 

Telemedizinische Anwendungen reichen von der Fernberatung bis hin zur Fernüberwachung von Patient:innen. Davon können beispielsweise Personen auf dem Land enorm profitieren. 

Die richtigen Medikamente zu abgelegenen Orten zu liefern, ist eine weitere Herausforderungen von Lieferketten, denen die Digitalisierung begegnen kann. 

Hier kreuzen sich die oben genannten Wege mit der Supply Chain. 

Digitale Lieferketten und Lagerhaltung 

Insgesamt hat die Pharmaindustrie komplexe Lieferketten, die eine präzise Koordination erfordern. Ein digitaler Zwilling beispielsweise kann helfen, den Fluss von Arzneimitteln und Rohstoffen zu verfolgen und zu optimieren. Durch die Integration von Daten aus verschiedenen Quellen entlang der Lieferkette kann der digitale Zwilling Engpässe, Verzögerungen und potenzielle Risiken erkennen. Dies ermöglicht eine verbesserte Planung und effizientere Lagerhaltung.

Oder durch den Einsatz von Track-and-Trace-Technologien können Unternehmen den Weg eines Arzneimittels vom Hersteller bis zum Patienten verfolgen. So wird eine kontaktlose und lückenlose Rückverfolgbarkeit und der Schutz vor Arzneimittelfälschungen  zum Beispiel durch RFID-Technologie (Radio-Frequency Identifikation) ermöglicht. Darüber hinaus ermöglicht die Nutzung von Echtzeitdaten eine optimierte Lagerhaltung und eine bessere Vorhersage von Bedarfen, um Engpässe zu vermeiden.

In die Supply-Chain-Optimierung wird bereits in vielen Unternehmen investiert.

So gilt es für die Politik, diese digitalen Errungenschaften auch für den Patient:innenkontakt zu gewährleisten. 

Zukunft der Patientenversorgung und Forschung durch elektronische Patientenakte (ePA)

Bis Anfang 2024 soll das elektronische Rezept in Deutschland zur Verfügung gestellt werden und die ePA bis Ende 2024 verpflichtend werden. Die Daten bleiben unter Kontrolle der Patient:innen, die selbst zustimmen können, wer Zugriff bekommt. 

Natürlich müssen datenrechtliche Bedenken ernst genommen werden und das Forschungsdatenzentrum Gesundheit ist als neutrale Stelle eingeführt worden, um mit dem Gesundheitsdaten - Nutzungsgesetz (GDNG) Daten der Krankenkassen pseudonymisiert für die Forschung nach Antrag freizugeben. 

Damit und mit der ePA schließt sich Deutschland langsam den führenden europäischen Ländern und auch den Plänen der Europäischen Union an. Denn der Data Governance Act (DGA) ist 2022 in Kraft getreten und wird im Herbst 2023 in jedem europäischen Land gelten. So kann international der Datenaustausch vereinfacht werden. 

Wenn - auch international - Daten aus Krankenakten und Krankheitsverläufen gebündelt genutzt werden können, bietet das der Forschung und der personalisierten Gesundheitsvorsorge einmalige Gelegenheiten. Bisher nutzen nur 1 % der gesetzlich Versicherten in Deutschland die elektronische Patientenakte (ePA). Es gilt, die Skepsis zu vertreiben, um wettbewerbsfähig zu bleiben. 

Israels Gesundheitspflegeorganisation Maccabi setzt beispielsweise schon seit Jahren auf eine von Algorithmen betriebene Datenbank, die alle Krankheitsdaten der israelischen Bevölkerung bündelt. Mit Big Data, Künstlicher Intelligenz und Konnektivität wird so beispielsweise ein Risiko für Darmkrebs individuell vorhersagbar. Schon seit 2019 sammelt Israel damit auch ein riesiges Datenpool. Deutschland wird mit der optionalen Nutzung von Daten von der "ePA für alle"  ab 2024 einen großen Fortschritt für die Pharmaindustrie bieten. 

Ausblick auf Pharma 4.0 

Diese sechs Wege der Digitalisierung sind nur einige Beispiele, wie in Zukunft Medikamente hergestellt, verordnet und verteilt werden. Die Pharmabranche befindet sich bereits in einer grundlegenden Transformation, die letztlich dazu beiträgt, die Patient:innenversorgung zu verbessern. 

Große Herausforderungen bleiben der Schutz sensibler Daten von behandelten Personen, die Sicherheit der digitalen Infrastruktur und immer wieder der Fachkräftemangel. Dafür ist es wichtig, Schulungen anzubieten und zu versichern, dass Mitarbeitende auf dem neuesten Stand sind und im Unternehmen oder der Branche gebunden werden. 

Schlussendlich muss auch ein Gesichtspunkt auf Nachhaltigkeit gelegt werden. Denn mit dem Rohstoffmangel wird sich die Pharmaindustrie von fossilen Energieträgern unabhängig machen müssen. Außerdem gibt es eine Selbstverpflichtung der Chemie - und Pharmabranche bis 2050 klimaneutral zu werden, wie der Verband der chemischen Industrie schreibt.

Aber auch hier kann die Digitalisierung die Prozesse unterstützen und bildet damit eine gute Aussicht auf die Zukunft der Pharmaindustrie.