Was bedeuten VUCA und BANI für den Life Sciences-Bereich?

Wie die Life-Sciences-Branche von VUCA und BANI betroffen ist und welche Handlungsmöglichkeiten es gibt, wird in folgendem Artikel exemplarisch erörtert. 

Hannes Sommer
Hannes Sommer
Founder & Managing Director Sinceritas Executive Search

Verschiedene Branchen in der westlichen Welt haben in den letzten Jahren und auch aktuell mit Strukturwandel, Energiekrisen und Personalmangel zu kämpfen. Die Welt, also das gesellschaftliche und politisch-wirtschaftliche Zusammenleben, scheint sich konstant und schnell zu verändern. Schon seit Anfang der 1990er Jahre gibt es ein Konzept, um diese Welt zu beschreiben. War es in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts das Akronym VUCA, wird im April 2020 der Begriff BANI hinzugefügt.  
Wie die Life-Sciences-Branche davon betroffen ist und welche Handlungsmöglichkeiten es gibt, soll hier exemplarisch erörtert werden. 

Begriffsfindung: VUCA und BANI

Mit dem Akronym VUCA wird eine Welt beschrieben, die zunehmend volatil (Volatility), ungewiss (Uncertainty), komplex (Complexity) und mehrdeutig (Ambiguity) ist. 
Anfang der 1990er Jahre handelte es sich ursprünglich um eine veränderte globale Situation, die sich nach Ende des Kalten Krieges ergeben hatte und ist aus einem militärischen Kontext entstanden. Davon ausgehend wird der Begriff seitdem auch benutzt, um zu zeigen, wie die VUCA-Welt die Verhältnisse in den zivilen Beziehungen und in Unternehmen prägt. So wird VUCA für Konzepte der Unternehmensführung benutzt. 

(Abb.1: karrierebibel.de/vuca/)

Um aktuelle Dynamiken in der Life-Sciences-Branche zu beschreiben, kann der Begriff somit dazu dienen, Vorgänge und Verhältnisse zu benennen, auf die sich Unternehmen von Krankenhäusern bis in die Pharmaindustrie einstellen müssen. 

Denn VUCA erfordert eine Anpassung von Produktionsbedingungen bis hin zur Unternehmensführung. Die Rahmenbedingungen für strategische Führung gelten nicht mehr wie gewohnt. Das betrifft auch die Mitarbeitenden, die ihre Karrieren nicht mehr unbedingt linear verfolgen, sondern Beschäftigungsverhältnisse öfter wechseln. Persönlich müssen sie gleichzeitig damit umgehen, dass sich die geglaubten Sicherheiten ändern. 
Damit nicht genug, hat sich auch die VUCA-Welt gewandelt. 

So wie sich die Welt in den 1990er Jahren mit einer neuen Ordnungsmacht auseinandersetzen musste, gibt es in den 2020er Jahren mehrere Krisen, die die Welt in Unordnung bringen. Ein anderes Akronym hilft hier, das VUCA- Modell noch weiter zu denken:  BANI, das als weiterführendes Ergebnis, als eine Aktualisierung oder einfach ein Zusatz von VUCA gesehen wird. 
Die Umgebung in der BANI-Welt ist dabei brüchig (Brittle) und ängstlich (Anxious). Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind nicht linear (Non-Linear) und unverständlich (Incomprehensible). 

(Fig.2: executiveacademy.at)

Für eine Kontext-Analyse schafft das Modell BANI die Möglichkeiten, die veränderten Rahmenbedingungen zu benennen und folglich Lösungen zu finden. 
Denn aktuell sind die Krisen von der Corona-Pandemie über Kriege bis hin zum Klimawandel und der zunehmenden Digitalisierung so komplex, dass sie Angst einflößen und unverständlich scheinen. Zunächst scheint es keine einfachen, linearen Lösungen und auch keine Antworten mehr durch VUCA zu geben. 

Brittle ist beispielsweise eine Situation, die sich nicht ankündigt, es bricht plötzlich zusammen. Die Pandemie verändert plötzlich die Kontaktregelung im Krankenhaus, ein Angriffskrieg stellt plötzlich die Energiesicherheit in Frage. Und auch wenn die Pandemie erfolgreich gemeistert wurde, kann sich die scheinbare Sicherheit danach kaum wieder herstellen 

Facing the Age of Chaos” hat es der Namensgeber Jamais Cascio genannt und mit BANI ein neues “Framework” kreiert, das andere Parameter als die von VUCA bereitstellt. Es soll helfen, sich darauf vorbereiten zu können, was ist und was kommen kann. Letztlich ist die BANI-Welt aber so, dass sie gerade nicht vorhersehbar ist und Konzepte, die zu starr sind, in Gefahr schweben, zu brechen. 

Es wird auch davon gesprochen, dass sich BANI mehr nach innen verlagert. Mitarbeitende beispielsweise sind zunehmend verunsichert und spüren die Ausmaße von Inflation, Energieknappheit und Insolvenzen am eigenen Leibe. In der Gesundheitsbranche bedeutet es also neben den strukturellen Herausforderungen auch, die ohnehin knappen Arbeitskräfte zu motivieren. 

Volatilität und Brüchigkeit: Herausforderungen für Lieferketten in der Pharmabranche

Volatilität bezieht sich in der Life-Sciences Branche auf die Schnelligkeit von Veränderungen, beispielsweise bei Regularien, bei Innovationen, Markttrends und den wechselnden Anbietern oder auch Mitarbeitenden. Am Beispiel der Lieferketten kann das Zusammenspiel von VUCA und BANI gut aufgezeigt und mögliche Lösungen vorgestellt werden. 

Für die Pharmaindustrie ist es besonders wichtig, auf Vorschriften zu achten, die unter anderem Transport und Lagerung betreffen. Eine Supply-Chain-Optimierung achtet darauf, dass Medikamente genau gekühlt werden und nicht zu lange lagern. Damit die Lieferketten einwandfrei und agil funktionieren, gibt es bereits Lösungen, die sich einer digitalen Lösung beispielsweise mit einem digitalen Zwilling (digital twin) bedienen. Damit können mögliche zukünftige Szenarien visualisiert und auch die jeweiligen Kennzahlen des Unternehmens einbezogen werden. Die Lieferketten-Volatilität kann damit reguliert werden. 

In der Corona-Pandemie hat die Pharmaindustrie bewiesen, dass sie sehr gut auf eine volatile Umgebung reagieren kann. Gleichzeitig ist der Aufwärtstrend der Jahre 2020 bis 2022 im Jahr 2023 für die Pharmaindustrie nicht mehr gegeben. Inflation und Energiekrise haben auch diesem Industriezweig zugesetzt. Das, was als stabil galt, scheint nun brüchig. 

Am Beispiel der Lieferketten schlägt die Managerin von Thyssenkrupp Materials Services Ilse Henne daher vor, mit Netzwerken resilientere Lieferketten zu gestalten. Eine Ende-zu-Ende-Datenkollaboration (end-to-end analytics) würde Transparenz auf der gesamten Lieferkette herstellen. Die frei verfügbaren Daten könnten dann wichtige Erkenntnisse über Schwierigkeiten wie Lieferengpässe produzieren und gleichzeitig Trends und Marktentwicklungen vorhersagen. 

Die Forderung, möglichst transparent, offen und gemeinschaftlich zu arbeiten, gilt auch für Führungskonzepte (und Führungskräfte) im Krankenhaus.

Unsicherheit und Ängstlichkeit: Personalmanagement im Krankenhaus 

Wie Prof. Dr. Christian Schmidt schlussfolgert, ist die Realität im Krankenhaus schon immer in einem Status von VUCA: wechselnde Tagesabläufe und Personalressourcen und daraus resultierende Unsicherheit in der Planung; komplexe Abläufe in Diagnose und Behandlung von schweren Krankheiten, die komplexe Zusammenarbeit und Technik erfordern; schließlich uneindeutige Krankheiten, die vielschichtige Erklärungen erfordern. 

Dr. Christian Schmidt schlägt als Lösung das Management by Objectives (Objectives and Key Results (OKR)) vor. Das bindet Mitarbeitende mit in die Unternehmensziele (Objectives) ein und kann mit den Key Results messbar überprüft werden. Die Beschäftigten machen Vorschläge und können so bottom-up (im Gegensatz zu top-down) Projektziele erreichen und das gesamte Unternehmen voranbringen. Gerade für die Komplexität der interdisziplinären Zusammenarbeit bei schwierigen Diagnosen beispielsweise kann es wichtig sein, alle Mitarbeitenden einzubinden. Um damit nebenbei auch das Prestige des gesamten Hauses zu steigern. 

Ob und wie OKR in dem oben beschriebenen Krankenhausalltag möglich ist, muss individuell entschieden werden. Sichtbar ist allerdings auch hier, dass eine offene oder eine transformationale Führung der aktuellen Zeitqualität entgegenzukommen scheint. Denn letztlich erhöht es die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, wenn sie in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, es schafft Transparenz und führt dazu, das Personal an das Haus zu binden. 

Ähnlich wie bei den Lieferketten würde es Abläufe so flexibel gestalten, dass sie auch in der BANI-Welt bestehen können. 

Komplexität und Non-Linearität als Möglichkeit der Interdisziplinarität

Die Komplexität im Life Sciences Bereich ergibt sich aus einer Vielzahl von Faktoren, darunter die Interaktion zwischen biologischen Systemen, technologischen Entwicklungen, regulatorischen Anforderungen, Marktbedingungen und dem sozialen Umfeld. Diese Komplexität erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und einen integrierten Ansatz, um komplexe Probleme zu lösen und innovative Lösungen zu entwickeln.

Um mit der Komplexität umzugehen, müssen Unternehmen im Life Sciences Bereich verstärkt auf interdisziplinäre Teams setzen, die Experten aus verschiedenen Fachbereichen wie Biologie, Chemie, Informatik, Ingenieurwesen, Medizin und Wirtschaft zusammenbringen. 

Von der interdisziplinären Zusammenarbeit profitieren auch diverse Fachgebiete im Krankenhaus. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie ein “shared decision making” in einem Herz-Team für Patient:innen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen auszubauen. Dabei arbeiten Fachärzt:innen verschiedener Fachrichtungen zusammen, ähnlich wie es das schon in der Onkologie mit “Multidisziplinären Tumorboards”  gibt. Die Diagnose und Behandlungsempfehlung, die im Falle des “multidisziplinären Herzboards” erfolgen, verknüpfen Expertisen von Kardiologie, Herzchirurgie und auch Anästhesiologie. So kann sehr individuell auf die Patient:innen eingegangen werden. 

Es liegt dabei an Strukturen und sicherlich Finanzierungsmöglichkeiten, um eine solche Arbeit flächendeckend anbieten zu können. 

Auch für Fachkräfte bedeutet es, sich für andere Disziplinen zu öffnen, um damit auch in einer Leitungsposition Entscheidungen nicht alleine treffen zu müssen. Ähnlich wie bei Führungskräften im Krankenhaus bieten die Herausforderungen einer komplexen und non-linearen Welt neue Chancen zur Zusammenarbeit. Davon können wiederum alle profitieren. So wird es sich auch mit der Interpretation von Daten verhalten. 

Mehrdeutigkeit und Unverständlichkeit: Interpretation von Daten, biologischen Mechanismen und Prognosen

Mehrdeutigkeit bezieht sich auf die Schwierigkeit, klare Informationen und Prognosen in einer unsicheren und komplexen Umgebung zu erhalten. Im Life Sciences Bereich kann dies bedeuten, dass Unternehmen mit unvollständigen oder widersprüchlichen Daten arbeiten müssen, um Entscheidungen zu treffen und Risiken zu bewerten. Oder, dass bestimmte Prozesse in neuen Forschungsfeldern wie den molekularen Mechanismen der Feinsteuerung bei der Umsetzung genetischer Information noch nicht bekannt oder unverständlich sind. 

Aufgrund der Menge der Daten, die in Unternehmen gesammelt werden, kann die Interpretation ab einem bestimmten Punkt nur durch künstliche Intelligenz (KI) geschehen und daher ein Gefühl der Unverständlichkeit hinterlassen. Gerade beim Einsatz von KI im Krankenhaus müssen Daten aber “qualitativ hochwertig, leicht verfügbar und nutzbar für KI-Anwendungen sein”, schreibt PwC.  

Daher liegt es an einem Unternehmen, Investitionen im Bereich der Datenerfassung und - Verarbeitung zu entwickeln und gleichzeitig die Mitarbeitenden “mitzunehmen”. Das Personal muss gut geschult und informiert werden, um transparent in diesen Prozess eingebunden zu werden. Damit wird Sicherheit für die Daten und für die Mitarbeitenden hergestellt und macht das Unternehmen zukunftsfähig. 

Eine Forschungsnotwendigkeit für agile Entwicklungsprozesse und adaptive Forschungsansätze wird so unterstützt. Die Komplexität kann also auch hier die Bedeutung von interdisziplinärer Zusammenarbeit und integrierten Ansätzen hervorheben. Und die Mehrdeutigkeit kann die Chance bieten, neue Datenerfassungs- und -analysetechnologien zu entwickeln, um klare Einblicke zu gewinnen und fundierte Entscheidungen zu treffen.

Fazit und Handlungsempfehlungen 

VUCA und BANI-Faktoren stellen Unternehmen im Life Sciences Bereich vor ungekannte Herausforderungen. Die damit einhergehenden Unsicherheiten können aber mit Prozessen aufgefangen werden, die gleichzeitig Chancen für Innovation und Wachstum bieten. Das Prestige des Berufes anzuerkennen ist eines der Mittel, um in dieser Welt zu bestehen. Darüber hinaus gilt es, Resilienz in alle Prozesse zu bringen und mit Achtsamkeit den einzelnen Erfordernissen gegenüber zu agieren. In einer VUCA-Welt gilt es, Resilienz, Empathie, Anpassungsfähigkeit und Transparenz zu zeigen. 

Die Bindung an bestimmte Marken nimmt ab, der Innovationsdruck nimmt zu und die Veränderungen in der Welt sind unvorhersehbar. Demgegenüber resilient zu werden, bedeutet eine größtmögliche “Agilität” und Flexibilität zu beweisen und gleichzeitig zu der gewohnten Stabilität zurückzufinden, ohne dass sie brüchig wird. 

Ging es in der VUCA-Welt also noch darum, als einzelnes Unternehmen möglichst agil den Unwägbarkeiten zu begegnen, zeigt sich in der VUCA-BANI-Welt, dass Zusammenarbeit und Interdisziplinarität die besten Mittel der Anpassung sind. Datenanalyse und Prognosemethoden verbessern dabei die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit und die Auswertung der Daten mit einer KI liefert neue Möglichkeiten.  

Auch die Vernetzung von Akteuren mit Kund:innen oder Patient:innen und sogar innerhalb der Lieferketten bietet Chancen, die neue Erfahrungen und Erfolge generieren. Dabei wird es wichtig, Mitarbeitenden sinnstiftende Aufgaben zu geben und allen ein Mitspracherecht einzuräumen. 

Schließlich kann damit auch die Leitung von der Rückendeckung des Teams profitieren. Ziel ist es, alle Mitarbeitenden selbstverantwortlich einzubinden, um gemeinsam der Krise zu begegnen. Davon abgesehen, dass die Forschung von Medikamenten und die Behandlung von Krankheiten schneller voranschreitet, wenn sich ein Team zusammenfindet. 
Durch interdisziplinäre Zusammenarbeit, verbesserte Datenanalyse und -interpretation, agile Entscheidungsfindung und Lieferketten und eine kontinuierliche Innovation können Unternehmen im Life Sciences Bereich erfolgreich in einer VUCA-BANI-Welt agieren. Damit können Unternehmen einen langfristigen Erfolg erzielen und bleiben attraktiv für qualifizierte Bewerber:innen.